Staatskanzlei

Ministerpräsident Matthias Platzeck in der „Allgemeinen Zeitung“, Mainz, (Ausgabe vom 19.07.2003) zur Agenda 2010

veröffentlicht am 21.07.2003

Ohne Radikalkur geht es nicht Von Matthias Platzeck, Ministerpräsident Land Brandenburg Im Streit um die Agenda 2010 kommt mir die wichtigste Frage zu kurz: Wie soll unser Deutschland künftig organisiert sein? Welchen Staat wollen wir uns leisten, was müssen die Bürger von ihm erwarten können und was muss der Einzelne tun für sich und das Gemeinwesen? Es geht bei den anzupackenden Reformen eben nicht nur ums Sparen, sondern auch um Handlungsspielräume der Zukunft für Bund, Länder und Gemeinden. Wir brauchen diese Spielräume, damit wir wieder Politik für Menschen gestalten können und nicht nur leere Kassen und horrende Schulden verwalten müssen. Ich will einen Staat, der in der Lage ist, die Weichen auf Zukunft zu stellen: auf exzellente Rahmenbedingungen für Bildung, Forschung und Hightech, auf Innovationen in Produktion und Verwaltung. Steuergelder müssen dorthin gehen, wo Chancen für zukunftsfähige Arbeitsplätze bestehen. Brandenburg durchforstet unter diesem Blickwinkel seine Förderprogramme und setzt Schwerpunkte bei Bildung, Forschung und Wissenschaft. Ich will einen Staat, in dem sich die Bürger nicht in Behördenlabyrinthen verlaufen und Verwaltungsangestellte nicht vor dem Gesetzesdschungel kapitulieren müssen. Meine Regierung prüft die Auflösung oder Zusammenlegung von Ämtern, wird Gesetze und Verordnungen entrümpeln und wird bis 2007 rund 12.400 Stellen im Landesdienst ab-bauen. Das ist nötig, denn Brandenburg ächzt – wie andere Länder auch - unter einer gewaltigen Schuldenlast. Dasselbe gilt für die Kommunen. Dies muss im Gedächtnis bleiben, wenn wir jetzt über das – konjunkturpolitisch zweifellos wünschenswerte – Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform mit dem Bund verhandeln. Brandenburg ist offen für diesen Entlastungsschritt, wenn die Rechnung auch für die Länder aufgeht. Wir haben bereits Städte und Dörfer von einer Reihe von Pflichtaufgaben entbunden. Für die Bürger bringt dies schmerzhafte Einschnitte. Aber der Weg des Schuldenabbaus ist alternativlos. Genauso wie der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, die uns anderenfalls in den nächsten Jahren um die Ohren fliegen werden. Denn zu einem modernen Staat gehört für mich auch, dass das soziale Netz den wirklich Not Leidenden auch weiter Hilfe zur Selbsthilfe geben muss. Wer Deutschland so durchgreifend modernisieren muss wie wir es jetzt tun, braucht ein dickes Fell. Denn noch immer gilt der allzu menschliche Satz, dass Veränderung gut ist, es sei denn, sie betrifft einen selbst. Einen Anschauungsunterricht dafür liefern Teile des Handels, die beim Dosenpfand unverfroren Verbraucher und Gesetzgeber vorführen, nur weil Einigen ökologisch vernünftiger Wandel nicht passt. Die 140 Jahre alte SPD hat die Herkulesaufgabe Umbau der Deutschland AG angepackt und eine Identitätskrise in Kauf genommen. Wenn Rot-Grün den Modernisierungskurs durchstehen will, braucht es eine klare Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll. Vor allem aber müssen Weg und Ziel allen Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden. Bedrohungsszenarien über Globalisierungsfolgen und demografischen Kollaps sind zuwenig, um über Jahrzehnte gewachsene Denk- und Verhaltensstrukturen zu verändern. Deutschland braucht eine Radikalkur - mit Perspektive, aber auch sozial ausgewogen. Nur wenn alle mittun, kann sie gelingen.