Staatskanzlei

65. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager:
Gedenkveranstaltung in Ravensbrück

veröffentlicht am 18.04.2010

Bitte erlauben Sie mir, ein Wort an unsere Gäste aus Polen voranzustellen. Seit einer Woche ist Ihr Land in Trauer um Präsident Lech Kaczynski, seine Frau Maria und die 94 weiteren Flugpassagiere, die beim Absturz von Smolensk ihr Leben ließen. Im Namen der Brandenburgischen Landesregierung möchte ich unseren Nachbarn noch einmal unser Beileid versichern. Die Kerzenmeere der polni-schen Bevölkerung und die Solidaritätsbekundun-gen aus aller Welt haben mich sehr bewegt. Sie zeigen: Im größten Schmerz treten viele Unter-schiede zwischen Menschen in den Hintergrund. Die Trauer verbindet uns alle. Auch das Gedenken am heutigen Tage verbindet uns über Grenzen hinweg. Frauen, Mädchen und auch Männer aus über 40 Nationen haben hier in Ravensbrück ihre schwersten und oft letzten Stun-den durchlitten. Wer zwischen 1939 und `45 auf diesem Platz stand und nicht zu den Wachmannschaften gehörte, musste in jeder Minute um sein Leben bangen. Tausende mussten Angst haben, vor Hunger oder Erschöpfung zusammen zu brechen. Mussten Angst haben, erschlagen oder erschossen zu wer-den, für medizinische Experimente oder Bordelle selektiert zu werden. Tausende standen hier bei den Zählappellen stundenlang auf dem Platz – bei jedem Wetter. Einige Häftlinge von damals sind heute unter uns. Sie, verehrte Überlebende, gehören zu den Weni-gen, die ihre Häftlingskleidung ablegen und den Schrecken von Ravensbrück hinter sich lassen konnten: befreit von der Roten Armee im April 1945, aber gezeichnet für ein ganzes Leben. Kein Stück Brot ist seitdem mehr selbstverständ-lich, kein Streifenmuster einfach nur gestreift. Und kein Ort still genug, um die Schreie von Ravens-brück ganz aus dem Kopf zu verbannen. Wer hier in Ravensbrück an Leib und Seele ver-wundet wurde und sich heute mit uns gemeinsam erinnert, bringt große Kraft auf. Es ist ein Kraftakt, diese Reise in die Vergangenheit anzutreten. Es ist ein Kraftakt, Worte für das Erlittene zu finden und sie auszusprechen. Deshalb bin ich jedem einzelnen Überlebenden, der heute hergekommen ist, sehr dankbar. Der Appellplatz, die Baracken und das Krematori-um von Ravensbrück sind stumme Zeugen. Erst die Stimmen der Überlebenden lassen uns das Geschehen hinter den Lagermauern verstehen, die Schicksale jenseits der Listen und Häftlingsnum-mern nachvollziehen. Sie erinnern uns an Gewalt und Willkür, aber auch an Momente der Solidarität und Hoffnung. Davon erzählt die Ravensbrücker Operette. Einst heimlich im Lager zu Papier gebracht, wurde sie gestern zum ersten Mal am Ort ihres Entstehens aufge-führt. Schülerinnen und Schüler aus der Region standen auf der Bühne und haben [mir] erzählt, wie viel das gemeinsame Musizieren bei ihnen ausge-löst hat: Die Hoffnung auf ein friedliches, gerechtes Miteinander aller Völker und Religionen. Das Ein-treten für ein solidarisches Miteinander aller gesell-schaftlichen Gruppen darf nie in Frage gestellt werden! Es ist das Vermächtnis der KZ-Opfer, dass wir nie vergessen, warum sie gestorben sind. Vor allem für die nachwachsende Generation soll Ravensbrück ein Ort des Lernens sein. Auch dann noch, wenn die Stimmen der Zeitzeugen eines Tages nicht mehr zu hören sind. Unsere Erinne-rungskultur muss und wird sich dadurch verändern. Aber sie wird immer ein wichtiges Ziel haben: die Vergangenheit verstehen, um die Zukunft gestalten zu können! Das vermag nur, wer die Vergangenheit in all ihren Facetten aufarbeitet. Die Mittel dafür werden immer vielfältiger. In Ravensbrück gibt es inzwischen eine große Zahl von Dokumentationen zu den verschiedenen Opfergruppen, auch zu den Täterinnen und Tätern. Es gibt eine internationale Jugendbegegnungsstätte und jedes Jahr eine Sommeruniversität. Ausstellungen wandern von hier in alle Welt. Damit stellt sich das Land Brandenburg einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte. Bei uns soll es nie wieder Lehrbücher und Leitsätze geben, in denen „die eine“ Wahrheit verkündet wird. Aufar-beitung dieser Art ist schmerzlich, aber sie ist auch Unterpfand der freiheitlichen Demokratie. Wir be-greifen diese Aufarbeitung als Daueraufgabe und als unser Versprechen an all jene, die in Ravens-brück und anderswo in unserem Land gelitten ha-ben. Wenn Sie, verehrte Überlebende, nach den Ge-denkveranstaltungen Ihre Heimreise antreten, kön-nen Sie eine Gewissheit mitnehmen: Was einst an diesem Platz geschah, bleibt unvergessen. Ihr Schicksal wird uns immer Mahnung sein. Danke.