Staatskanzlei

15. Potsdamer Wirtschaftsforum von UVB und MAZ am 02. März 2006
Demografischer Wandel – Herausforderungen annehmen und Chancen nutzen

Rede des Chefs der Staatskanzlei Brandenburg, Staatssekretär Clemens Appel:

veröffentlicht am 02.03.2006

Das Thema des diesjährigen Potsdamer Wirtschaftsforums lautet „Demografischer Wandel – Herausforderungen annehmen und Chancen nutzen“. Bevor ich darauf ein gehe, welche Aufgaben ich für die Wirtschaft sehe, will ich sagen, was die Landesregierung getan hat und tun wird.

Lassen Sie mich zunächst die Fakten nennen. Brandenburg wird bis zum Jahr 2020 rund 170.000 weniger Menschen haben als heute. Aber demografischer Wandel bedeutet nicht nur die Beschreibung der zahlenmäßigen Veränderung der Bevölkerungszahl. Demografischer Wandel heißt: Änderung der Alters- und Sozialstruktur sowie räumliche Ausdünnung an der einen und weitere Verdichtung an der anderen Stelle. Von 1990 bis 2020 wird die Bevölkerungszahl in den Berlin fernen Regionen des Landes Brandenburg um 25 % zurückgegangen sein, während die Bevölkerungszahl im engeren Verflechtungsraum um Berlin im gleichen Zeitraum um 30 % gestiegen sein wird.

Was sind die Ursachen dieser Veränderungen von Zahl und Struktur der Bevölkerung?

Sie lauten:

  • Geburtendefizit,
  • höhere Lebenserwartung,
  • Abwanderung und
  • räumliche Umverteilung.

Zum Geburtendefizit:

Für die einfache Reproduktion der Bevölkerung sind – statistisch gesehen – 2,1 Geburten pro Frau erforderlich. Tatsächlich liegt die heutige Geburtenrate in Ostdeutschland bei 1,25 Geburten und ist damit viel zu niedrig. Bis Mitte der 70er Jahre ging die Geburtenrate in Ostdeutschland wie auch in Westdeutschland nahezu gleichverlaufend zurück. Durch sozialpolitische Maßnahmen in der DDR wie Kindergeld, Verlängerung der Freistellung nach der Geburt, Arbeitsplatzgarantie, Kinderbetreuung ab dem 1. Lebensjahr stieg die Geburtenrate auf fast 2 Geburten pro Frau an. Diese sozialpolitischen Maßnahmen wirkten aber nur 5 Jahre. Danach sank die Geburtenrate innerhalb von 10 Jahren auf das Ausgangsniveau von 1975. Zum Zeitpunkt der Wende hatte sie fast wieder West-Niveau erreicht. Danach ging die Geburtenrate nahezu im freien Fall nach unten und sank auf 0,75 – den niedrigsten Wert, der weltweit je gemessen wurde.

In absoluten Zahlen heißt dies: 1980 wurden noch mehr als 40.000 Kinder geboren. Im Jahr 1993 waren es nur noch etwas mehr als 12.000.

Die zweite Ursache des demografischen Wandels:

Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich an, derzeit alle 4 Jahre um 1 Jahr. Jedes 2. Kind, das in diesem Jahr geboren wird, wird 100 Jahre alt werden. Diese erfreuliche Tatsache, dass die Menschen immer älter werden und dass sie vor allem gesünder sind im Alter, wird in der aktuellen Diskussion noch allzu häufig negativ bewertet. Dies zeigt, wie dringend wir einen Mentalitätswechsel brauchen. In Japan werden die Menschen noch älter als bei uns. Dort spricht man vom „Land des langen Lebens“, wir hingegen sprechen von „Vergreisung“ .

Die dritte Ursache des demografischen Wandels ist die Abwanderung:

Viele junge Menschen, und dabei insbesondere junge Frauen, wandern nach wie vor in die alten Bundesländer ab. Zwischen 1989 und 2003 haben netto insgesamt 1,5 Mio. Personen Ostdeutschland in Richtung Westen verlassen. Dies sind nicht nur einfach 1,5 Mio. Menschen weniger, sondern dies bedeutet auch den Verlust künftiger Leistungsträger und potentieller Eltern.

Und der vierte Grund für den demografischen Wandel ist die Umverteilung im Land Brandenburg und in der Bundesrepublik:

In Brandenburg wird die Bevölkerungszahl in den Berlin nahen Gebieten weiter zunehmen und in den Berlin fernen Regionen zurückgehen. Dies führt zu einem Spannungsfeld bei der Einwohnerdichte von 20 Einwohnern je km² in den ländlichen peripheren Regionen Brandenburgs bis zu 14.000 Einwohnern je km² in der Mitte Berlins.

Bisher habe ich den demografischen Wandel nur für das Land Brandenburg und die anderen neuen Länder beschrieben. Die alten Länder spüren die Auswirkungen des demografischen Wandels bisher nur punktuell, ja in einigen Fällen profitieren sie derzeit vom Wandel, vor allem vom Wegzug, der für sie Zuzug von gut ausgebildeten jungen Menschen bedeutet. Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften und zugleich von potentiellen Familiengründern.

Mit einigen Jahren Verzögerung aber wird der demografische Wandel auch die alten Bundesländer mit allen Konsequenzen erreichen.

Aus dem demografischen Wandel und seinen Folgen müssen wir politische Konsequenzen ziehen:

Die Folgen des demografischen Wandels, verbunden mit einem immer enger werdenden Finanzrahmen, zwingen uns zu einem radikalen und konsequenten Umsteuerungsprozess.

Und dies nicht nur innerhalb des Landes Brandenburg sondern auch im Verbund mit anderen Bundesländern, in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung sowie auf der Ebene der Europäischen Union.

Grundsätzlich gibt es drei Ansatzpunkte, um den demografischen Wandel zu gestalten: Kommunikation, Gegensteuern und Anpassen, d. h. die Folgen gestalten.

D ie Realitäten des demografischen Wandels sind für uns in Brandenburg die Aufforderung zum Handeln und wir richten unser politisches Handeln danach aus.

In den vergangenen 12 Monaten haben Ministerpräsident Platzeck, Mitarbeiter der Staatskanzlei oder ich in mehr 80 Veranstaltungen über Ursachen und Folgen des demografischen Wandels, aber auch über Konsequenzen und Handlungskonzepte berichtet.

M it unserer Kommunikationsstrategie wollen wir

  • Angst nehmen , die Kommunikation muss Orientierung bieten;
  • einen Mentalitätswechsel einleiten, eine öffentliche Debatte über den notwendigen Wertewandel führen;
  • wir fordern Offenheit für neue Lösungen und unkonventionelle Ideen, um die Chancen des Wandels zu ergreifen;
  • wir fordern und fördern Engagement. Wir stärken die Bürger- und Zivilgesellschaft, unterstützen das Ehrenamt und ermöglichen die Eigenverantwortung.

Wir sind überzeugt, dass nur durch Transparenz und Offenheit auch Akzeptanz für die erforderlichen politischen Maßnahmen erreicht werden kann.

Wir haben die Kommunikation des Themas, die Fakten, die Probleme aber auch die Lösungswege und die mit dem demografischen Wandel verbundenen Chancen an den Anfang gestellt, weil wir wissen, dass wir dringend einen Mentalitätswechsel benötigen. Und weil wir auch wissen, dass sich die Mentalität, d.h. Grundeinstellungen, Denkweisen und Lebensstile, nur sehr langfristig verändern lässt, müssen wir erforderliche Veränderungen sofort einleiten.

Ähnlich langfristig wirkt Familienpolitik. Mit Familienpolitik wollen wir begleiten.

Im Dezember hat die Landesregierung ein umfassendes Kinder- und familienpolitisches Zukunftsprogramm beschlossen. Ministerpräsident Platzeck hat dazu gesagt: „Die Brandenburger Landesregierung ist fest entschlossen, alles ihr Mögliche zu tun, um Brandenburg zu einer der kinder- und familienfreundlichsten Regionen in Europa zu machen.“

Das heißt für uns:

  • Die Familien sind Leistungsträger unserer Gesellschaft. Deshalb soll ein gesamtgesellschaftlicher Wertewandel hin zu positiven Einstellungen zu Kindern und Familien befördert werden.
  • In Brandenburg sollen die Rahmenbedingungen dafür verbessert werden, dass wieder mehr Kinder geboren werden.
  • Mütter und Väter sollen die Möglichkeit haben, Familie und Berufsleben besser miteinander zu vereinbaren.
  • Eine kinder- und familiengerechte Infrastruktur soll gesichert und weiter entwickelt werden.
  • Die Erziehungskraft der Eltern soll gestärkt werden. Alle Kinder sollen gesund aufwachsen können, kein Kind soll vernachlässigt und zurückgelassen werden.
  • Alle Kinder und Familien sollen die Möglichkeit haben, an für sie wichtigen Entscheidungen mitzuwirken und sich im politischen Alltag zu beteiligen.

Bei der Feststellung, dass Kinder unsere Zukunft sind, dürfen wir nicht vergessen, dass sie in der Gegenwart gefördert werden müssen. Und damit spreche ich das Thema Bildung, frühkindliche Bildung und qualifizierte Ausbildung an. Und hier ist nicht nur der Staat, die Gesellschaft an sich, sondern auch die Wirtschaft angesprochen. Die Unternehmen bilden die Schlüssel- und Brückenfunktion zwischen Arbeit, Wirtschaft und Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der Abwanderung vor allem junger Menschen sehen wir in Brandenburg die Sicherung des künftigen Bedarfs an qualifizierten Fachkräften als eine der zentralen Herausforderungen an. In den nächsten 10 Jahren werden in den brandenburgischen Unternehmen ca. 200.000 Fachkräfte benötigt. Es zeigt sich, dass die Perspektiven für junge Menschen besser werden, die Chancen für ein „Hierbleiben“ bzw. „Zurückkommen“ steigen. Um diese Chancen zu nutzen, werden wir im 2. Quartal ein Handlungskonzept vorlegen, bei dem u.a. folgende Themen zentrale Punkte sein werden:

  • Berufsorientierung und Anschlussfähigkeit für nachfolgendes und lebenslanges Lernen,
  • Kompetenzen in den Unternehmen für die Qualifizierung der Beschäftigten,
  • Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft,
  • Qualifizierung Arbeitsloser und auch
  • Alters- und alternsgerechtes Arbeitsplätze

Und damit sind wir beim Thema Rente. Bei der Debatte um die „Rente mit 67“ sehe ich die Wirtschaft in mehrfacher Hinsicht in der Pflicht. Die Rentenbezugsdauer hat in den letzten 40 Jahren um mehr als 70 % zugenommen. Wer hier die Augen verschließt und Handlungsbedarf leugnet, handelt politisch unverantwortlich. Und da es nicht darum gehen kann, die Rentenbezugsdauer wieder zu kürzen, gibt es nur die Möglichkeit, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Zunächst das echte, dann das gesetzliche. Dabei ist auch mir klar, dass ein Dachdecker nicht mit 67 Jahren auf dem Dach stehen und eine Krankenschwester in diesem Alter keinen Patienten umbetten kann. Aber hier sind die Arbeitgeber in der Pflicht, die Wirtschaft ebenso wie der öffentliche Dienst.

Arbeitsplätze müssen so eingerichtet sein, dass sie auch von älteren Arbeitsnehmern ausgeübt werden können. Im Idealfall wachsen und verändern sich die Arbeitsabläufe bzw. die Arbeitsplätze entsprechend des Lebenszyklus der Menschen. Bisher wurden Arbeitnehmer, die ihren bisherigen Aufgaben gesundheitlich nicht mehr gewachsen sind, zu Lasten der allgemeinen Sozialkassen entlassen - mit verheerenden Auswirkungen auf die öffentlichen Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkassen.

Dass es auch anders geht, zeigen Beispiele aus dem Ausland. Während beispielsweise der Anteil der 50 bis 64-jährigen in Schweden bei 75 % liegt, arbeitet in Deutschland nur noch jeder Zweite der über 50-jährigen. Schaut man nach Finnland mit einem ähnlich hohen Anteil älterer Erwerbstätiger, dann sieht man eine mögliche Lösung. Während in Deutschland Frühverrentung belohnt wird, wird sie in Finnland bestraft. Ein Mitarbeiter, der in Finnland früher in Rente geht, für den muss die Firma einen Ausgleich an die Rentenkasse zahlen.

So sind die Firmen selbst daran interessiert, dass ihre Mitarbeiter gesund bleiben bzw. umgeschult werden, um eine andere Tätigkeit wahrnehmen zu können.

D och nicht nur die Wirtschaft muss sich auf veränderte Bedingungen einstellen. Der Staat muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Dabei konzentrieren wir uns auf Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft. Wir müssen den Personalbedarf und die –kosten weiter senken. Bis 2010 wollen wir in Brandenburg die Zahl der Stellen auf unter 50.000 reduzieren. Gleichzeitig steht in den kommenden Jahren die Prüfung einer umfassenden Verwaltungsstruktur- und Funktionalreform auf der Tagesordnung. In diesem Zusammenhang wird auch die regionalisierte, überörtliche und überkreisliche Aufgabenwahrnehmung zu prüfen sein. Im Rahmen der eGovernment-Strategie des Landes erfolgt eine Verwaltungsvereinheitlichung durch Schaffung verbindlicher Standards für alle Ebenen.

Die Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung ist bereits beschlossene Sache. I m vergangenen November haben wir eine neue Förderstrategie mit einer Konzentration auf 15 Regionale Wachstumskerne und einer starken, räumlich-sektoralen Fokussierung von Landesmitteln – u.a. in den Branchenschwerpunkten auf den Weg gebracht.

Wir müssen handeln, denn – so hat es Antoine de Saint-Exupèry formuliert: „ Was die Zukunft betrifft, so haben wir nicht die Aufgabe, sie vorherzusehen, sondern sie zu ermöglichen.“