Staatskanzlei

Platzeck: „Für ein bürgerfreundliches Europa“

veröffentlicht am 09.05.2006

Ministerpräsident Matthias Platzeck plädiert dafür, den europäischen Gedanken im Dialog mit den Bürgern stets neu zu begründen. Beim Europatag in der Potsdamer Staatskanzlei begrüßte er am Dienstag entsprechende Initiativen der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments und der EU-Ratspräsidentschaften. Sie seien nötig, da nach einer fast 50jährigen „Erfolgsgeschichte ohnegleichen“ eine Vertrauenskrise gegenüber den europäischen Institutionen zu beobachten sei. Die Grundfrage heiße deshalb: Welches Europa überzeugt den Bürger? Als europäische Zukunftsaufgabe bezeichnete es Platzeck, ein Europa der Bürger und der Jugend zu schaffen, das die Menschen auch emotional berührt. Ministerpräsident Platzeck sagte in seiner europapolitischen Grundsatzrede anlässlich der Verleihung der Europaurkunden unter anderem: „...Es war an einem 9. Mai, als der französische Außenminister Robert Schumann seine Vision der Integration der europäischen Völker vorstellte. Man schrieb das Jahr 1950 und die Erinnerung an die beiden Weltkriege, die vor allem über die Staaten des Kontinents unsägliches Leid gebracht hatten, war noch sehr wach. Gerade deshalb berührte dieses Friedensprojekt die europäischen Völker und jeden Einzelnen auch emotional zutiefst. Nach fast fünfzig Jahren einer europäischen Erfolgsgeschichte ohnegleichen erleben wir dennoch eine gewisse Müdigkeit, ja eine Vertrauenskrise gegenüber den europäischen Institutionen. Das hat ganz vielfältige Gründe, auf die wir differenzierte Antworten finden müssen. Meiner Ansicht nach heißt die Grundfrage: Welches Europa überzeugt den Bürger? Wie können wir die Bürgerinnen und Bürger und vor allem die Jugend auf dem europäischen Integrationsweg heute auch emotional mitnehmen? Die europäische Zukunftsaufgabe, ein Europa der Bürger und der Jugend zu schaffen, das die Menschen auch emotional berührt, verlangt zunächst eine kritische Analyse der Defizite bisheriger Politik. Spätestens seit dem negativen Ausgang der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden wissen wir: Der europäische Gedanke muss im Dialog mit den Bürgern stets neu begründet werden. Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die EU-Ratspräsidentschaften haben das erkannt und diesen Dialog begonnen. Darüber hinaus sind es Organisationen, Verbände und einzelne Persönlichkeiten, die sich diesem Anliegen einer besseren Vermittlung des europäischen Gedankens in der Bevölkerung und in den Schulen annehmen. Ich habe großen Respekt vor diesen Initiativen, weiß doch jeder, wie viel Kraft, Geduld, Zeit und Idee dafür notwendig sind. ... Was genau bedeutet eigentlich dieses „Europa der Bürger“? Was muss im Dialog und in den europäischen Entscheidungsverfahren verbessert werden, damit Europa die Menschen überzeugt? - Wir müssen zuerst Information, Dialog und Mitwirkungsmöglichkeiten jedes Einzelnen an den europäischen Entscheidungsprozessen verstärken. – Zweitens müssen wir dafür Sorge tragen, dass Regelungen nah am Bürger getroffen werden. Das ist der Kern des Subsidiaritätsprinzips, dessen Umsetzung insbesondere von den Bundesländern eingefordert werden muss. – Und zum Dritten müssen wir die Rolle der Regionen und Kommunen in der europäischen Gesetzgebung stärken. Zum Beispiel war es ein Fehler, bei der geplanten Dienstleistungsrichtlinie vorschreiben zu wollen, dass die Behörden im Entsendeland für die Festlegung und Einhaltung der Modalitäten bei der Ausübung der Dienstleistungsfreiheit verantwortlich sein sollen. Das würden die Menschen im Empfängerland als nicht bürgerfreundlich empfinden. Deshalb freue ich mich, dass im Europäischen Parlament ein Kompromiss gefunden wurde, wonach nun die örtlichen Behörden über die Anwendung und Kontrolle der Richtlinie entscheiden sollen. – Viertens müssen wir die Möglichkeiten der Bürger verbessern, sich in europäische Entscheidungsprozesse einzubringen. Die Entscheidungsverfahren in Brüssel und Straßburg sind für die meisten Menschen zu undurchsichtig, einfach zu weit weg. Deshalb ist es richtig, dass nun auch der Rat seine Beratungen, jedenfalls in Gesetzgebungsverfahren, hoffentlich sehr bald öffentlich abhält. Jedoch sind weitere Maßnahmen notwendig, um die Zivilgesellschaft stärker an den Entscheidungsverfahren zu beteiligen. – Und schließlich müssen wir fünftens die Grundrechte und Bürgerrechte stärken und vor allem für jeden verständlich vermitteln. Deshalb ist es so wichtig, dass die Europäische Grundrechtecharta als Teil des Vertrages über die Verfassung Europas möglichst bald in Kraft gesetzt wird. Es war auch ein Fehler, die Bürgerinnen und Bürger nicht stärker in die Debatten über den europäischen Verfassungsentwurf einzubeziehen. Europa muss viel stärker als bisher im Alltag der Menschen zu spüren sein. Wir brauchen eine europäische Parteienlandschaft, eine europäische Medienlandschaft, eine europäische Öffentlichkeit. Auch als Landesregierung haben wir unsere Hausaufgaben zu machen. Wir suchen den direkten Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern und der Jugend über Europa, wollen Kenntnisse vertiefen. Eine gute Gelegenheit bietet aus meiner Sicht zum Beispiel das Europäische Jugendparlament 2007, für das ich die Schirmherrschaft übernommen habe. Es wird im Frühjahr nächsten Jahres 250 europäische Jugendliche nach Potsdam zu einer Sitzung des Jugendparlaments zusammenbringen - eine hervorragende Gelegenheit, mit den Jugendlichen in Brandenburg über Europa ins Gespräch zu kommen, Kritik und Visionen über Europa auszutauschen und neue Ideen zu diskutieren. Wer jedoch die Europakrise einzig und allein auf ein Vermittlungsproblem und die Notwendigkeit besserer, durchschaubarer Verfahren und stärkerer Teilnahme der Bürger auf europäischer Ebene reduziert, ist auf dem Holzweg. Vielmehr begegnet uns angesichts geringer Wirtschaftssteigerungsraten und anhaltend hoher Arbeitslosigkeit eine tiefe Unsicherheit gegenüber der Globalisierung und die Befürchtung, dass Brüssel nur durch Liberalisierung und Marktöffnung ohne Rücksicht auf den Erhalt der sozialen Standards darauf antwortet. Meiner Ansicht nach ist ein soziales und solidarisches Europa eine Stärke in der Globalisierung, keine Schwäche. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Globalisierung könnte auch für Europa unser brandenburgisches Leitmotiv "Stärken stärken" die Richtung aufzeigen. Europa muss sich in der Globalisierung behaupten. Dies heißt jedoch keinesfalls, dass wir die Errungenschaften des sozialen und solidarischen Europa über Bord werfen dürfen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, diese Errungenschaften als spezifische europäische Stärken auszubauen und für den globalisierten Wettbewerb zu nutzen. Die Europäer haben die Kreativität, den Mut und die Innovationskraft, ein europäisches Sozialmodell weiter zu entwickeln, das im weltweiten Wettbewerb nicht nur bestehen kann, sondern ein wirklicher Trumpf in unserer Hand ist. Sozialer Friede gründet auf den Partizipationsrechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Er gewährleistet die über lange Jahre anhaltende Stabilität der europäischen Wirtschaften und ist ein Standortvorteil erster Güte. Dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir müssen in globalen Maßstäben denkend die Wirtschaft als eine europäische begreifen und gleichzeitig diese europäische Wirtschaftspolitik im Land, in den Regionen und bei den kleinsten Wirtschaftseinheiten umsetzen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie deutlich machen: Die Öffnung der Märkte in dieser Branche schafft neue und bessere Arbeitsplätze in großem Umfang. Zwei Drittel der Wirtschaftsleistung wird im Dienstleistungssektor erbracht werden. Das sind geschätzte zwei Millionen neue Arbeitsplätze in der EU. Zugleich wird der im Europäischen Parlament vorbereitete Kompromiss eine sozial verträgliche Lösung bringen, die die europäischen Sozialstandards und die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berücksichtigt. Die Verbindung des energischen Abbaus von Wirtschaftshindernissen mit dem Erhalt des europäischen Sozialmodells würde eine überzeugende Antwort auf vorhandene Unsicherheiten in der Bevölkerung gegenüber der Globalisierung geben. Bei unserer Suche nach Antworten auf die Globalisierung müssen wir europäische, nationale und Landespolitik für Wachstum, Beschäftigung und Innovation stärker verzahnen. Europa spielt heute in fast allen Lebensbereichen eine wichtige, manchmal die entscheidende Rolle. Beschlüsse aus Brüssel und Straßburg betreffen längst jeden Einzelnen. Daher müssen wir dringender denn je sicher stellen, dass die Landes- und regionalen Interessen frühzeitig und wirksam in den Brüsseler Entscheidungsprozess eingebracht werden. Die EU ist ihrerseits in vielen Schlüsselbereichen, wie zum Beispiel der erneuerten Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung, auf die aktive Mitwirkung und die dauerhafte Umsetzung ihrer Entscheidungen durch die Mitgliedstaaten, die Länder und die Regionen und Kommunen angewiesen. Die Landesregierung sieht gerade auch vor diesem Hintergrund, dass Europa eine Querschnittsaufgabe ist. Bei der Förderpolitik, der Programmierung der Strukturfondsmittel, der Erhöhung der Forschungsausgaben, der Bildungs-, Innovations- und Wissenschaftspolitik ist das Ineinander-Greifen europäischer, nationaler und Landespolitiken der Schlüssel zum Erfolg. Ich bin stolz darauf, dass Brandenburg bei der Umsetzung der neuen strukturpolitischen Ziele der Lissabon-Strategie vorne liegt, ja in einigen Bereichen sogar beispielgebend für andere Regionen ist. Diese Meinung teilt auch die zuständige Kommissarin Hübner, wie sie uns bei ihrem Besuch im Februar d.J. versichert hat. Mit der Neuausrichtung der Förderstrategie haben wir unsere Förderpolitik entsprechend den Lissabon-Zielen auf Zukunftsfelder konzentriert. Wir haben außerdem erste Maßnahmen zur Programmierung der neuen Fördergelder 2007 - 2013 im Sinne der Lissabon-Strategie unternommen. In der gemeinsamen Sitzung heute haben wir gesehen, dass Brandenburg auch in den zentralen Bereichen, für die Günter Verheugen als Vizepräsident und Kommissar für Industrie und Wirtschaft verantwortlich ist, wichtige, in die Zukunft weisende Schritte eingeleitet hat. Dies gilt für die Erschließung und Förderung von Unternehmenspotenzialen, insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen, ebenso wie für die Stärkung der Humanressourcen. Die brandenburgische Bildungsoffensive und die Fortschreibung des Landesinnovationskonzepts im Dezember 2005 haben die europäischen Ziele und Maßnahmen auf der Landesebene erfolgreich auf den Weg gebracht. Gerade bei Innovation und Forschung hat sich die Strategie des zupackenden Landes bewährt. Die Mittelstandsförderung wird verstärkt, Forschungsausgaben werden erhöht. Wir setzen auf Spitzentechnologien, um der Jugend in Ausbildung und Forschung die Chance zu eröffnen, in der globalisierten Welt voran zu kommen. Innovation, nochmals Innovation und Kreativität sollen zum Markenzeichen Brandenburgs werden. Wir haben allen Grund, auf den Ideenreichtum der Jugend zu vertrauen, wie etwa die beindruckenden Zahlen von Unternehmensneugründungen durch junge Existenzgründer im Land zeigen. Ich unterstütze, dass nach der geplanten Dienstleistungsrichtlinie eine zentrale Anlaufstelle für Existenzgründer geschaffen werden soll, auch um bürokratische Hemmnisse abzubauen.... Die Erweiterung der EU ist auch eine Antwort auf die globale Herausforderung. Sie hat in Brandenburg übrigens weder zu dem von manchem befürchteten Anstieg von Arbeitslosigkeit oder Unternehmensinsolvenzen geführt. Im Gegenteil, mittel- und langfristig schafft die Erweiterung gute Voraussetzungen für bessere und mehr Arbeitsplätze: die wachsende Kaufkraft in den Beitrittsländern und der Innovationsschub bringen Vorteile sowohl für die alten und die neuen EU-Länder, besonders auch für Brandenburg und Polen. Die Erweiterung ist ein Bespiel für eine erfolgreiche Politik des "Stärken stärken". Denn ohne die Anziehungskraft der Europäischen Union und des Binnenmarktes hätten wir den großen europäischen Markt nicht schaffen können. Nur so werden wir im Wettbewerb im Weltmaßstab mit den USA, China und Indien bestehen. Der historische Erfolg der Erweiterung wäre ohne die Freundschaft und Versöhnung Deutschlands mit Frankreich und Polen nicht möglich gewesen. Deutschland, Frankreich und Polen haben im Weimarer Dreieck begonnen, ihre Politiken zu europäisieren und stärker abzustimmen. In Warschau habe ich vergangene Woche die erste derartige Dreierpartnerschaft zwischen einer deutschen, französischen und polnischen Region mit meinen beiden Amtskollegen unterzeichnet. Brandenburg geht mit seinen Partnerregionen Ile de France und Masowien voran. Abschließend möchte ich die Hoffnung an die Schülerinnen und Schüler richten, dass sie mit unserer Unterstützung und auch auf eigenen Wegen die europäische Vision neu begründen. Jugendliche aus sieben europäischen Staaten haben auf einem Treffen mit sieben europäischen Staats- und Regierungschefs im Februar dieses Jahres in Dresden im Geiste Robert Schumanns "Dresdner Forderungen" an Europa verabschiedet. Sie fordern zum Beispiel ein einheitliches europäisches Wahlrecht und einen direkt gewählten Präsidenten der Union, der Europa ein Gesicht gibt; ein Europäisches Haus der Geschichte; das Fach "Europakunde" in allen Schulen und eine "Europäische Zentrale für Politische Bildung". Ich unterstütze, wie Bundespräsident Köhler, der die Jugendlichen in Dresden traf, ausdrücklich den Enthusiasmus und Idealismus dieser jungen Leute. Die zahlreichen persönlichen Begegnungen und Freundschaften der Bürger und die Kontakte und gemeinsamen Veranstaltungen der Kommunen in Europa, vor allem auch das ehrenamtliche Engagement für die deutsch-französische und die deutsch-polnische Aussöhnung bilden die Grundlage für das erfolgreiche europäische Einigungswerk. Ich freue mich daher, heute einige von ihnen mit der Europaurkunde des Landes Brandenburg auszeichnen zu können.“